Mafia-Jäger in Italien "Mache mir Sorgen um das Ausland, denn das Geld wird nicht nur nach Italien fließen"

Stand: 22.08.2021 | Lesedauer: 6 Minuten

Von Virginia Kirst

In ganz Europa und insbesondere in Deutschland sei die Mafia gut aufgestellt, warnt Maurizio Vallone, oberster Mafia-Jäger Italiens. Das werde sie nutzen, um an die Milliarden aus dem EU-Corona-Fonds zu kommen. Für Italien glaubt Vallone, eine Taktik gefunden zu haben. Die Arbeitsweise der Mafia hat sich verändert, sagt Maurizio Vallone, oberster Mafia-Jäger Italiens
Quelle: pa/dpa, dpa; Montage: Infografik WELT

Maurizio Vallone leitet seit Oktober die italienische Anti-Mafia-Behörde DIA, die Direzione Investigativa Antimafia, die vor rund 30 Jahren gegründet wurde, um den Kampf gegen die Mafia zu intensivieren und koordinieren. Heute ist es eine der Hauptaufgaben der DIA, öffentliche Ausschreibungen vor dem Zugriff der Mafia zu schützen. Ihre Arbeit ist daher ganz entscheidend, damit die EU-Gelder, die nun nach Italien fließen, nicht in die falschen Hände geraten.

WELT erreicht Vallone per Videotelefonat in seinem Büro in Rom, hinter ihm steht das berühmte Foto der beiden Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, die 1992 von der Mafia ermordet wurden und so zum Symbol im Kampf gegen sie wurden.

WELT: Direttore Vallone, diese Woche ist die erste Tranche des Corona-Wiederaufbauprogramms "Next Generation EU" von Brüssel an Rom überwiesen worden. Welches Risiko sehen Sie, dass ein Teil dieser 25 Milliarden Euro in den Händen der Mafia landet?

Maurizio Vallone: Dass die Mafia versucht, an öffentliche Aufträge zu kommen, ist in Italien seit Jahrzehnten bekannt. Im Gegensatz zu den anderen EU-Ländern kennen wir uns daher seit vielen Jahren mit dem Kampf gegen die Mafia aus und sind darauf vorbereitet. Wir haben ihre Strukturen studiert und Gesetze und Organisationsstrukturen geschaffen, die weltweit führend sind, um dieses Phänomen effektiv und auf verschiedenen Ebenen zu bekämpfen. Wir gehen nachrichtendienstlich und ermittlerisch gegen sie vor, aber vor allem auch präventiv.

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WELT: Wie funktioniert dieses System konkret?

Vallone: Einerseits gibt es in der Präfektur jeder Provinz ein Anti-Mafia-Büro, in dem alle Polizeieinheiten zusammenarbeiten, um die Unterwanderung von Ausschreibungen zu verhindern, das wir als DIA koordinieren und unterstützen. Bewirbt ein Unternehmer sich auf eine Ausschreibung, überprüft diese Einheit, ob er Verbindungen zur Mafia hat und erteilt eine Freigabe oder ein Verbot, das anschließend auch von der nationalen Anti-Mafia-Datenbank erfasst wird. Parallel dazu greifen wir das Vermögen der Mafia an. Als Direktor der DIA habe ich die Befugnis, Gerichten die Beschlagnahmung von Unternehmen, Vermögen oder Grundstücken vorzuschlagen, wenn der Besitzer der Mafia angehört oder nahesteht. Stimmt das Gericht zu, beschlagnahmen wir und ziehen alle finanziellen Mittel ab. Der Staat führt das Geld dann sozialen Zwecken zu.

WELT: Mit "Next Generation EU" kommen aber viel mehr Gelder nach Italien als bisher, insgesamt 191,5 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds, die außerdem zügig ausgegeben werden müssen.

Vallone: Wir verstärken uns derzeit deutlich, um mit diesem erhöhten Aufkommen fertigzuwerden, vor allem in der IT. Schon bevor es die EU-Fonds gab, haben wir ein Projekt angestoßen, um mit künstlicher Intelligenz unsere Abläufe effizienter und schneller zu gestalten. Das haben wir nun beschleunigt, und es wird dieser Tage abgeschlossen. Sobald wir es einsetzen, können wir mit dem gleichen Personal in der gleichen Zeit 50 Prozent mehr Anträge bearbeiten.

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WELT: Und was unternehmen Sie schon jetzt, um die EU-Mittel zu schützen?

Vallone: Die Gelder kommen ja gerade erst an. Ich gehe davon aus, dass es die ersten Ausschreibungen und Bewerbungen im Herbst geben wird. Aktuell leisten wir Präventionsarbeit, indem wir Gespräche zwischen Mafiosi abhören und dabei Zeugen ihres offensichtlichen Interesses an Ausschreibungen werden. Egal, ob es um privates, italienisches oder EU-Geld geht. Wo immer die Mafia Geld sieht, versucht sie, es zu bekommen.

WELT: Dank des nationalen Wiederaufbauplans kann die Mafia genau sehen, wie die Regierung plant, die Mittel auszugeben.

Vallone: Deshalb versucht sie derzeit, Unternehmen aus den betreffenden Bereichen zu infiltrieren oder zu übernehmen. Also im Gesundheitswesen, Bau- oder Technologiesektor oder im Bereich der erneuerbaren Energien. Wir hören diese Gespräche ab und werden versuchen, sie frühzeitig an der juristischen Front zu stoppen. In diesem Punkt ist unser System ausgesprochen effizient. Ich mache mir mehr Sorgen um das Ausland, denn das Geld wird nicht nur nach Italien fließen, und die anderen EU-Länder sind nicht so gut darauf vorbereitet wie wir, die Mafia zu bekämpfen.

Quelle: Infografik WELT

WELT: Weil man sich dort nicht so gut mit der Mafia auskennt und keine entsprechenden Systeme zur Prävention und Repression existieren?

Vallone: Genau. Daher kann die Mafia Synergien suchen und in aller Ruhe an Ausschreibungen teilnehmen und Zugang zu den gleichen EU-Fonds erhalten. Wenn ich ein Mafioso wäre, würde ich genau das tun. In anderen EU-Ländern riskieren sie viel weniger und können mehr Geld machen.

WELT: An welche Länder denken Sie?

Vallone: Länder, die bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens weniger kooperieren, Steuerparadiese und solche Länder, die nicht so genau dabei hinschauen, woher die Gelder stammen, mit denen neue Unternehmen eröffnet werden. Die Mafia kennt keine Grenzen. Der kalabrischen Mafia ´Ndrangheta ist es völlig egal, ob sie eine Ladung Kokain nach Italien, Deutschland oder Ruanda bringt. Wir haben mittlerweile gerichtliche Beweise, dass sie ihre Einheiten, die Locale heißen, an vielen Orten außerhalb Kalabriens aufgebaut hat. In Südtirol, im Piemont, im Aostatal, aber auch im Ausland und insbesondere in Deutschland.

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WELT: Haben die Verbindungen nach Deutschland seit den Mafiamorden von Duisburg 2007 zugenommen?

Vallone: Die deutschen Behörden sind seit diesen Morden sehr aktiv geworden und sind sich über die Gefahr, die von der italienischen Mafia ausgeht, bewusst. Das BKA etwa hat eine Spezialeinheit eingerichtet und ist Teil eines Interpol-Projekts, mit dem die kalabrische Kriminalität weltweit bekämpft werden soll.

WELT: Die Mafia ist also nicht mehr nur ein Problem des italienischen Südens?

Vallone: Auf keinen Fall. Vor rund zwei Jahren haben wir etwa in Kanada in Zusammenarbeit mit der kanadischen Polizei ein Locale gefunden, das sogar den Kalabriern Befehle erteilte. Aber wir wissen, dass auch die Camorra aus Kampanien etwa in Deutschland, Holland, Frankreich und Osteuropa aktiv ist.

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WELT: Halten Sie diese stille, globalisierte Mafia für gefährlicher oder jene, die in den 90er-Jahren Italien terrorisierte, Menschen auf offener Straße erschoss und Attentate auf Richter verübte?

Vallone: Vor 30 Jahren war die Mafia ein Krebsgeschwür in unserem Staat, in den sie ihre eigenen Leute bis auf die höchsten Ebenen eingeschleust hatte und von dem sie Schutz genoss. Das gibt es heute nicht mehr. Vielmehr führen wir jetzt Untersuchungen durch, um die Rolle einiger Mitglieder staatlicher Institutionen in jenen Jahren aufzudecken. Daher hat die Mafia sich verlegt, etwa auf Ausschreibungen. Heute holen die Mafiosi die Lupara (abgesägte Schrotflinte; d. Red.) nur noch raus, wenn es unbedingt nötig ist. Ihr Ziel ist es aber weiterhin, Geld zu verdienen und das tun sie mit dem Handel von Rauschgift in großem Stil.

WELT: Die ‚Ndrangheta gilt heute als größter Kokainschmuggler der Welt.

Vallone: Und das Geld, das sie damit verdient, will sie in die legale Wirtschaft überführen. Das tun sie mit großem Können über die stille Infiltration von Unternehmen. Die Corona-Krise hat ihnen dabei in die Hände gespielt, weil viele Unternehmen Kapital dringend nötig hatten und die Banken nicht bereit waren, es ihnen zu geben. Dann springt die Mafia ein. Im ersten Moment merkt der Unternehmer vielleicht nicht einmal, wer ihm da gerade einen Kredit anbietet. Aber nach und nach übernimmt die Mafia dann das ganze Unternehmen und drängt ihn hinaus. Und wenn sie einmal in der legalen Wirtschaft angekommen ist, ist es fast unmöglich, sie zu fassen zu bekommen. Das ist die große Gefahr. Und sie existiert bei Weitem nicht nur in Italien.


Quelle: welt.de vom 22.08.2021